Soziales
Entschädigungsrecht

III. 3.  Opferentschädigungsgesetz

 

c) Geschützter Tatbestand

 

Nicht jede Straftat, die einen Körperschaden hervorruft, löst einen Anspruch nach dem OEG aus, vielmehr muss die Tat gemäß § 1 Abs. 1 OEG

  • in einem tätlichen Angriff gegen eine Person bestehen,
  • rechtswidrig und
  • vorsätzlich begangen worden sein.

    Beispiele:
    - Die Schauspielerin I.v.B. erschießt ihren Geliebten K.
    - Der Bankbote B wird bei einem Raubüberfall niedergeschlagen.
    - Der Homosexuelle H wird von Rechtsradikalen verprügelt.
    - Der Ausländer A wird mit Benzin überschüttet und angezündet.
    - Der Gaststättenbesucher G will einen Streit schlichten und wird dabei niedergestochen.

Das Tatbestandsmerkmal "vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff" i.S.d. OEG verstößt nicht gegen Europarecht. Das Europäische Übereinkommen vom 24.11.1983 über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten, das keine Definition des Begriffs "vorsätzliche Gewalttat" enthält, gebietet keine erweiternde Auslegung des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG. Der bundesdeutsche Gesetzgeber hat deshalb durch das Tatbestandsmerkmal "vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff" in § 1 Abs. 1 S. 1 OEG in zulässiger Weise von seinem durch das Übereinkommen belassenen Gestaltungsspielraum Gebrauch gemacht. Gegenteiliges ergibt sich auch aus der Richtlinie 2004/80/EG des Europäischen Rates vom 29.4.2004 zur Entschädigung von Opfern von Straftaten nicht (LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 24.04.2020 - L 13 VG 54/19 -, BSG, Beschluss vom 14.08.2020 - B 9 V 25/20 B -).

Auch die Abwehr eines solchen Angriffs und die dabei erlittene gesundheitliche Schädigung ist in § 1 Abs. 1 OEG ausdrücklich einbezogen worden (zu den typischen Beweisschwierigkeiten, siehe unter IV. Schädigender Tatbestand).

Als tätlicher Angriff ist grundsätzlich eine in feindseliger Willensrichtung unmittelbar auf den Körper eines anderen zielende gewaltsame Einwirkung anzusehen (BSG, Urteile vom 10.09.1997 - 9 RVg 1/96 - und vom 24.07.2002 - B 9 VG 4/01 R -).

Seine Rechtsprechung, dass bereits in der Bedrohung mit einer scharf geladenen Waffe (o.a. BSG, Urteil vom 24.07.2002 - B 9 VG 4/01 R -) ein vorsätzlicher und rechtswidriger tätlicher Angriff i.S. des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG liegen kann, weil eine derartige Bedrohung das Leben und die Unversehrtheit des Opfers objektiv hoch gefährde, hat das BSG allerdings aufgegeben. Wie auch bei schriftlichen Erpressungsversuchen reicht die bloße Drohung mit einer, wenn auch erheblichen Gewaltanwendung oder Schädigung für einen tätlichen Angriff nicht aus (s. III. 3. OEG f. Einzelfälle tätlicher Angriff, BSG, Urteil vom 15.12.2014 - B 9 V 1/13 R -; vorgehend LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 13.12.2012 - L 6 VG 2210/12 - Banküberfall mit einer Pistolenattrappe).

Ähnlich dann auch im folgenden

Beispiel:
Als die Antragstellerin A gegen 1.30 Uhr auf dem Heimweg von einer Feier die Straße überqueren will, tritt sie völlig unerwartet mit dem linken Fuß in einen unmittelbar am Straßenrand gelegenen Wasserabfluss, dessen 46 cm mal 46 cm großer Deckel entfernt worden war. Bei dem Sturz erleidet sie einen komplizierten Trümmerbruch des linken Unterschenkels. Die Polizeibeamten finden den Gullydeckel etwa fünf Meter entfernt im hohen Gras neben der Fahrbahn. In der näheren Umgebung war ein weiterer Gullydeckel aus der Verankerung herausgehoben worden.

Der zur Schädigung führende Tatbeitrag liegt in dem Entfernen des Deckels eines Abflusslochs (Gullys). Wenn keine anderen Feststellungen getroffen werden können, also nicht konkret festgestellt werden kann, ob das Entfernen des Gullydeckels unmittelbar darauf gerichtet war, einen herannahenden Menschen zum Sturz zu bringen, fehlt der Handlung die erforderliche unmittelbare (feindliche) Ausrichtung auf andere Menschen. Sie kann nicht als tätlicher Angriff gegen eine Person angesehen werden (BSG, Urteil vom 10.12.2003 - B 9 VG 3/02 R -).

weiteres Beispiel:
Die Antragstellerin, die in einem in Mehrfamilienhaus mit acht Wohnungen wohnt, öffnet die Massivholztüre vor ihrer Kellerabteiltüre und stürzt, weil diese aus den Angeln gehoben worden ist und nur so ausgesehen hat, als sei sie verschlossen.

Auch wenn in dem Haus "kalter Krieg" geherrscht hat, führt das nicht weiter. Allein das Schaffen einer Gefahrenlage (hier das Aushängen der Kellertür) genügt eben nicht; ein vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG setzt die unmittelbare feindliche Ausrichtung auf andere Menschen voraus (Bayerisches LSG, Urteil vom 05.07.2016  - L 15 VG 20/11 -).

Gegenbeispiel:
Der Sicherheitsbeauftragte S hat, weil sein Auftraggeber erpresst wird, den Auftrag, durch seine Anwesenheit in dessen Villa ein positives Sicherheitsgefühl zu vermitteln. Als S sich auf der Terrasse seines Auftraggebers aufhält, trifft ihn ein Schuss in die linke Schulter. Ein Täter ist nicht zu ermitteln.

Hier liegt nach den Grundsätzen des Beweises des ersten Anscheins ein sog. typischer Geschehensablauf vor. Allein schon der in der Regel rechtswidrige, von der Rechtsordnung nicht gedeckte Gebrauch einer Schusswaffe durch einen unbekannten Täter spricht zwangsläufig dafür, dass dieser mit seinem Schuss eine Körperverletzung nicht ausschließen wollte und mithin mit bedingtem Vorsatz gehandelt hat (LSG Berlin, Urteil vom 29.10.2002 - L 13 VG 2/01 -).

Ein tätlicher Angriff i.S.d. OEG muss nicht notwendigerweise mit Gewalt im Sinne einer "vis absoluta" oder einer "vis compulsiva" verbunden sein. Auch wenn ein Täter den Willen eines anderen durch Täuschung, Überredung, Verführung oder sonstige Mittel ohne besonderen Kraftaufwand bricht oder ihn gar nicht erst aufkommen lässt, kann ein tätlicher Angriff vorliegen. Entscheidend ist die Rechtsfeindlichkeit des Täters .

Beispiel:
Der 25-jährige J unterhält zu der 13-jährigen K eine zunächst freundschaftliche Beziehung. Die beiden kommen sich näher. Im weiteren Verlauf kommt es - durchaus auf Anregung der K - zum Geschlechtsverkehr. Nach dem Eintritt einer Schwangerschaft und dem Abbruch der Beziehung treten psychische Störungen bei dem jungen Mädchen ein, die das sexuelle Erlebnis nicht verarbeiten kann.

Bei dieser Sachlage ist unerheblich, ob die Initiative zum Geschlechtsverkehr von K ausgegangen ist. Denn die Rechtsfeindlichkeit gegenüber dem Schutzgebot, an oder mit einem Kind sexuelle Handlungen vorzunehmen (§ 176 StGB), indiziert den tätlichen Angriff (BSG, Urteil vom 18.10.1995 - 9 RVg 7/93 -).

Andererseits ist aber selbst bei Anwendung körperlicher Kräfte nicht immer von einer Gewalttat auszugehen.

Beispiel:
Die 17-jährige Kirmesbesucherin K wird von einem 23-jährigen Mann M aus Jux (aber vorsätzlich) gegen ihren Willen hochgehoben. Infolge ihres Strampelns und seiner Alkoholisierung kommen beide zu Fall. Sie erleidet einen Schädelbasisbruch.

Hier ist ein OEG-Anspruch zu verneinen: Zwar war die schädigende Handlung des M vorsätzlich; er hat sich aber nicht kämpferisch, nicht rechtsfeindlich verhalten; er wollte "nur einen Spaß" machen (BSG, Urteil vom 23.10.1985 - 9a RVg 5/84 -).

Diskutiert wird, wie eine Kindesvernachlässigung zu werten ist. Problematisch ist in diesem Zusammenhang, was unter "Kindesvernachlässigung" überhaupt zu verstehen ist. Es reicht zumindest nicht jede Vernachlässigung aus; zu fordern sein wird eine einem Missbrauch ähnliche Konstellation. Es müssen also Handlungen vorliegen, die bei Würdigung der Gesamtumstände in ihrer Gefährlichkeit dem eines sexuellen Missbrauchs vergleichbar sind. Hier wird man dann bei Bejahung einer Garantenstellung wohl zu einem OEG-Anspruch des geschädigten Kindes kommen (vgl. dazu auch Rundschreiben des Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung vom 13.02.2002, nachdem Fälle der Vernachlässigung von Kindern in den Schutzbereich des OEG dann einbezogen werden können, wenn die zugrunde liegende Tat oder Unterlassung geeignet ist, schwere gesundheitliche Schädigungen hervorzurufen, und zudem nach dem StGB (§ 225) strafbar ist.

Eindeutig liegt kein tätlicher Angriff vor, wenn der Straftatbestand der "unterlassenen Hilfeleistung" (§ 323c StGB) erfüllt ist (BSG, Beschluss vom 12.06.2003 - B 9 VG 11/02 B - unter Hinweis auf BSG, Urteil vom 10.11.1993 - 9 RVg 2/93 -). Zu beachten ist, dass es bei Verletzung der Garantenpflicht (s.o. zur Kindesvernachlässigung) anders sein könnte; in den beiden vorstehenden Entscheidungen hat sich das BSG nicht zur Differenzierung zwischen einem "echten" und "unechtem Unterlassungsdelikt" (s. dazu § 13 StGB) geäußert.

Keinen tätlichen Angriff stellt auch die fortlaufende psychische Beeinträchtigung eines Mitmenschen durch "Mobbing" (BSG, Urteil vom 14.02.2001 - B 9 VG 4/00 R -) oder Stalking (BSG, Urteil vom 07.04.2011 - B 9 VG 2/10 R -) dar, schließlich auch nicht das Einwirken durch List (BSG, Urteil vom 12.02.2003 - B 9 VG 2/02 R - Kindesentziehung durch List).

Dem vorsätzlichen tätlichen Angriff gleichgestellt werden in § 1 Abs. 2 OEG die

  • vorsätzliche Beibringung von Gift (SG Berlin, Urteil vom 04.09.2014 - S 139 VG 310/08 -: Unfreiwilliges Doping in der DDR) und
  • die wenigstens fahrlässige Herbeiführung einer Gefahr für Leib und Leben durch ein mit gemeingefährlichen Mitteln begangenes Verbrechen, also etwa durch Brandstiftung oder durch eine Explosion (z.B. " heiße Sanierung" eines Mietshauses).

    Hinweis:
    Jedoch werden Schäden, die durch den tätlichen Angriff mit einem Kraftfahrzeug verursacht worden sind, in § 1 Abs. 11 OEG aus dem Anwendungsbereich dieses Gesetzes ausgenommen, weil insoweit aufgrund anderer Gesetze und des Hamburger Entschädigungsfonds der Kfz-Versicherer bereits hinreichender Schutz für die Opfer der Tat besteht (vgl. BT-Drs. 7/2506). Dies gilt auch dann, wenn das Kraftfahrzeug vorsätzlich zur Schädigung des Opfers eingesetzt worden ist (LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 24.05.2017 - L 11 VE 56/16 -).

Geschützt ist neben der ausdrücklich in § 1 OEG genannten rechtmäßigen Abwehr eines Abgriffs auch die Flucht des Opfers vor einem tätlichen Angriff ("infolge").

Beispiel:
Der Tanzschüler T gerät mit dem Skinhead S in Streit und wird von diesem aufgefordert, sich zu einem "friedlichen Gespräch" im Stadtpark einzufinden. T folgt diesem Vorschlag. Als er zum Treffpunkt kommt, sieht er sich einer gewaltbereiten Horde Skinheads gegenüber. Als er mit einer Bierflasche beworfen und auch getroffen wird, flieht er und gerät unter ein Kfz.

Die Verletzungsfolgen sind zu entschädigen. Dahin gestellt sein soll hier, ob ggf. ein Versagungsgrund i.S.d. § 2 OEG vorliegt - s. dazu unter III. 3.  OEG d) Versagungsgründe).

Die Gewalttat muss indes nicht vollendet sein; es genügt schon die Androhung der Gewalttat und die gewaltsame Beseitigung von Hindernissen auf dem Weg zur Verwirklichung der Tat.

Beispiel:
Drei polizeibekannte Schläger geraten bei einem Kneipenbesuch mit dem Malergesellen M in Streit. Sie verfolgen ihn bis zu seiner Wohnung, drohen, die Tür und anschließend M den Schädel Axt einzuschlagen, wenn er nicht öffne. Dann werfen sie ein Fenster ein und schlagen gegen die Tür. M gerät in Panik; er springt aus einem Fenster und bricht sich ein Bein.

Hier ist die drohende Gewalteinwirkung so massiv, dass das BSG einen Entschädigungstatbestand bejaht hat. Maßgeblich ist dabei, dass die Täter - aus seiner Sicht - bereits unmittelbar zur Tatverwirklichung angesetzt hatten und dabei waren, die letzten Hindernisse zu beseitigen (vgl. BSG, Urteil vom 10.09.1997 - 9 RVg 1/96 -).

anders:
Die im Obergeschoss ihres Hauses schlafende S bemerkt, dass sich im Erdgeschoss ein Eindringling aufhält und die Räume durchsucht. Beim Versuch, in ihrer Angst aus dem Fenster zu klettern und zu fliehen, stürzt sie ab und verletzt sich erheblich.

In diesem Fall ist nicht festzustellen, dass sie bereits dem Beginn eines tätlichen Angriffs ausgesetzt war. Es fehlt an einer Drohung mit Gewalt gegen sie und auch an einer Vorbereitung zum unmittelbaren Gewalteinsatz (BSG, Urteil vom 28.03.1984 - 9a RVg 1/83 -).

anders:
Der Täter T hindert seine Bekannte B am Verlassen seiner Wohnung. Als T unaufmerksam ist, klettert B aus dem im dritten Obergeschoss liegenden Fenster und versucht zum darunter gelegenen Stockwerk abzusteigen. Als T am Fenster erscheint, lässt sie sich fallen. Sie erleidet schwere Verletzungen.

Diese sind zu entschädigen; der Angriff auf die körperliche Unversehrtheit - hier Angriff auf die körperliche Bewegungsfreiheit  - war nicht mit Vollendung der Freiheitsberaubung beendet, die Flucht und als schädigendes Ereignis der Absturz der B sind von dem Angriff mit umfasst (BSG, Urteil vom 30.11.2006 - B 9a VG 4/05 R -).

 

Lediglich (lebende) Menschen kommen als Opfer in Betracht, nicht aber bereits Tote (BSG, Urteil vom 12.06.2003 - B 9 VG 6/02 R - zum sexuellen Missbrauch eines toten Mädchens, mit der Folge, dass die Mutter des Mädchens auch keinen Anspruch hat, wenn sie infolge der Nachricht über den Missbrauch einen Schockschaden <s. dazu II. Gemeinsame Begriffe 1) Beschädigte> erleidet).

 

Allein rechtswidrige Angriffe werden entschädigt. Setzt also z.B. der Polizist P gegen den Randalierer R Gewalt ein, ist sein Verhalten grundsätzlich polizeirechtlich oder strafprozessrechtlich gerechtfertigt.

Die Beweislast trägt nach allgemeinen Grundsätzen der Betroffene, mithin der Antragsteller, weil auch die Rechtswidrigkeit des tätlichen Angriffs eine nachzuweisende, tatbestandliche Voraussetzung ist. D.h. im o.a. Beispielsfall müsste der gesundheitlich geschädigte R nachweisen, dass die Handlung des P nicht gerechtfertigt war.

Jedoch ist zu beachten, dass im Regelfall schon die Tatbestandserfüllung die Rechtswidrigkeit indiziert (vgl. LSG NRW, Urteile vom 24.11.1998, - L 6 VG 64/96 - und vom 25.01.2000, - L 6 VG 76/96 -; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 15.04.1999, - L 6 VG 2776/98 -; für die Frage der Mitursächlichkeit eines Ausschlussgrundes trägt aber die Versorgungsverwaltung die Beweislast <BSG, Urteil vom 18.06.1996 - 9 RVg 7/94 ->). Dieser Anscheinsbeweis kann indes durch Umstände entkräftet werden, die einen anderen Geschehensablauf ernsthaft möglich erscheinen lassen (LSG NRW, Urteil vom 31.10.2006 - L 6 VG 22/06 -). 

Für den Vorsatz reicht der natürliche (Handlungs-)Vorsatz des Täters aus.

Vorsatz setzt das Wissen und Wollen der Tatbestandsverwirklichung voraus (kognitatives und voluntatives Element).

Wissen bedeutet die Kenntnis des Täters,
- dass er angreift,
- dass er einen Menschen angreift,
- dass er einen Menschen widerrechtlich, d.h. ohne Rechtfertigungsgrund, angreift.

Wollen beinhaltet die Entscheidung des Täters, den Tatbestand zu verwirklichen, wobei zu unterscheiden ist
- einerseits zwischen direktem Vorsatz und der - teilweise als Form des direkten Vorsatzes angesehenen - Absicht (also der Handlungswille des Täters ist final auf den vom Gesetz bezeichneten Handlungserfolg gerichtet) und
- andererseits dem bedingten Vorsatz (dolus eventualis), also wenn der Täter die Tatbestandsverwirklichung  für möglich hält und dies letztlich aus Gleichgültigkeit gegenüber dem geschützten Rechtsgut (billigend) in Kauf nimmt.

Im OEG reicht der bedingte Vorsatz.

Auf Schuldfähigkeit kommt es nicht an, etwa bei Alkoholdelikten (s. dazu BSG, Urteil vom 18.04.2001 - B 9 VG 3/00 R -); entsprechendes gilt z.B. für Geisteskranke oder Täter unter Drogeneinwirkung. Auch der Angriff eines schuldunfähigen, aber handlungsfähigen Kindes ist ausreichend.

Beispiel:
Der 10-jährige K steckt dem Spielkameraden S "aus Spaß" einen brennenden Feuerwerkskörper in die Hosentasche. Bei der Zündung erleidet S erhebliche Brandverletzungen in der Leiste und an den Geschlechtsorganen.

Wenn festgestellt werden kann, dass K von der Gefährlichkeit seiner Handlung wusste, ist die Tat trotz der Minderjährigkeit des K zu entschädigen (BSG, Urteil vom 03.02.1999 - B 9 VG 7/97 R -).

Ein rechtswidriger Angriff kann auch in der Abwehrhandlung desjenigen zu sehen sein, der irrtümlich eine Nothilfesituation annimmt (§ 1 Abs. 1 S. 2 OEG). Der Irrtum des Täters über einen Rechtfertigungsgrund schließt also den natürlichen Vorsatz nicht aus.

Beispiel:
Die Ehefrau E des späteren Täters T lernt auf einem Straßenfest O (Opfer) kennen und nimmt ihn mit nach Hause. T hatte bereits geschlafen, wacht aber auf und verweist den körperlich weitaus stärkeren O des Hauses. Danach kommt es zu einer lauten Auseinandersetzung zwischen den Eheleuten E und T, in deren Verlauf die E grundlos um Hilfe schreit und sich auf den Boden wirft. T läßt von der E ab und geht in die Küche, um sich ein Stück Schinken abzuschneiden. In diesem Moment entschließt sich O, der vor dem Haus noch die Schreie der E gehört hat, in das Haus zurückzukehren und ihr zu helfen. Auf sein Klopfen öffnet T, der noch das Schinkenmesser in der Hand hat. Als O die E auf dem Boden liegen sieht, geht er in Verkennung der Situation auf T los; er glaubt, E helfen zu müssen ("Nothilfe"). T weicht zunächst zurück. Als O weiterhin auf ihn eindrängt, sticht T zweimal zu. O verstirbt an den Stichfolgen.

Frau O und ihre beiden Kinder verlangen Versorgung (Gesamtumfang: ca. 1,5 Millionen €).

Das BSG hat einen OEG-Anspruch bejaht: Zwar war die Tathandlung des T nicht durch Notwehr gedeckt; sie war rechtswidrig. Es bestand allerdings objektiv eine Notwehrlage, weil der kräftigere O den T mit Schlägen angegriffen hatte. Auch war die Abwehr (Einsatz des Messers) objektiv erforderlich; denn der schwächere T war zuerst zurückgewichen und konnte sich gegen den stärkeren O nicht mit erkennbarem Erfolg etwa nur durch Fausthiebe wehren. Jedoch war die Handlung nicht i.S. von § 32 Abs. 1 StGB geboten. Denn für einen objektiven, besonnenen Beobachter wäre erkennbar gewesen, dass sich O in einem Irrtum über seine eigene Nothilfesituation (Hilfe für E) befunden hatte. T wäre zuzumuten gewesen, O über den Hergang aufzuklären oder auszuweichen. Dieser Irrtum des T schließt den natürlichen Vorsatz nicht aus (BSG, Urteil vom 25.03.1999 - B 9 VG 1/98 R  -).

Der Vorsatz braucht nicht den entschädigungspflichtigen Taterfolg zu umfassen; es reicht aus, wenn der Vorsatz auf die Gewalteinwirkung gegen das Opfer gerichtet ist (BSG, Urteil vom 10.09.1997- 9 RVg 1/96 -; ein typischer Fall ist hier, dass das Opfer infolge unglücklicher, unvorhersehbarer Umstände stirbt: BSG, Urteil vom 24.07.2002 - B 9 VG 4/01 R -).

Der Vorsatz bedarf des Nachweises. Ist etwa ein Täter unbekannt geblieben oder lässt sich der Sachverhalt insoweit nicht aufklären, z.B. weil der Täter zum Tatgeschehen schweigt, darf jedoch aus den äußeren Umständen auf das Vorliegen des Vorsatzes geschlossen werden (BSG, Urteil vom 04.02.1998 - B 9 VG 5/96 R -). 

Essenz:

Zusammengefasst hat die im Rahmen des OEG zu beachtenden Anforderungen das LSG Hamburg, Urteil vom 31.05.2016 - L 3 VE 6/14 -:

Ebenso wie allgemein im Sozialrecht müssen auch für eine soziale Entschädigung nach dem OEG alle anspruchsbegründenden Tatsachen zur Überzeugung des Tatrichters erwiesen sein, d.h. mit einer einen vernünftigen Zweifel ausschließenden, an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit feststehen. Falls es daran fehlt, geht das zu Lasten des Anspruchstellers, der die objektive Beweis- oder Feststellungslast trägt. Das gilt für den erforderlichen Vorsatz des tätlichen Angriffs; eine fahrlässige Schädigung genügt nicht - außer beim Fehlgehen eines gezielten Angriffs und bei einem gemeingefährlichen Verbrechen i.S. des § 1 Abs. 2 Nr. 2 OEG. Der Staat tritt mit dieser sozialen Entschädigung nur dann ein, wenn seine Ordnungskräfte es nicht vermocht haben, bestimmte grobe Rechtsbrüche zu verhindern, nicht aber im gesamten Bereich strafbaren Fehlverhaltens und erst recht nicht im gesamten Unfallbereich. Dies gilt aber in gleicher Weise auch für die Rechtswidrigkeit des Angriffs. Denn diese ist nicht nur erforderlich zur Verhängung der entsprechenden strafrechtlichen Sanktion und muss dementsprechend vom Strafrichter festgestellt werden. Sie gehört auch zu den anspruchsbegründenden Tatsachen im Sinne des OEG. Rechtswidrig ist auch in diesem Bereich nur der Angriff, für den Rechtfertigungsgründe nicht zur Seite stehen. Ihr Fehlen muss folglich mit dem Maßstab des Vollbeweises erwiesen sein. Eine Beweisregel, dass im Falle eines tätlichen Angriffs stets dessen Rechtswidrigkeit indiziert sei und deshalb die Versorgungsverwaltung das Fehlen von Rechtfertigungsgründen zu beweisen hat, existiert dagegen nicht.