Soziales
Entschädigungsrecht

IV. Schädigender Tatbestand

 

Neben der Zugehörigkeit zu einem bestimmten Personenkreis, wie er zuvor unter Abschnitt III. beschrieben worden ist, setzt der Versorgungsanspruch nach allen hier in Betracht kommenden Gesetzen einen schädigenden Tatbestand, auch "schädigendes Ereignis" genannt, voraus. Es muss bei der Prüfung eines Anspruchs aus dem Bereich des sozialen Entschädigungsrechts immer festgestellt werden, ob

 

Bei dem hier zu erörternden schädigenden Ereignis handelt es sich um das konkrete Geschehen, das die gesundheitliche Schädigung verursacht haben soll. Im Rahmen des BVG sind das in aller Regel kriegerische Vorgänge, etwa ein Gewehrschuss, eine Bombenexplosion, ein Flugzeugabsturz oder eine Granatsplittereinwirkung, aber auch innere Erkrankungen. Im Bereich des SVG geht es meistens um Unfälle; eine Schädigung nach dem ZDG kann (bzw. nunmehr: konnte) vielleicht durch eine Infektion bei der Betreuung von Kranken auftreten, während das HHG und das StrRehaG sehr oft wegen solcher Gesundheitsstörungen zur Anwendung kamen, die durch schwere Haftbedingungen oder Misshandlungen verursacht worden sind. Typische Sachverhalte nach dem OEG sind Straftaten wie Körperverletzung, Totschlag oder Brandstiftung, nach dem IfSG die Impfung bzw. die Gabe von Antikörpern oder Medikamenten.

Diese schädigenden Vorgänge müssen stets in vollem Umfang bewiesen sein,

d. h. es muss mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit feststehen, dass dieses schädigende Ereignis stattgefunden hat. Die einfache Wahrscheinlichkeit ("es spricht mehr dafür als dagegen") genügt hier nicht. Gerade in Verfahren nach dem OEG - auf anderen Rechtsgebieten kommt dies wohl kaum in Betracht - kann der gerichtlichen Pflicht, den Sachverhalt zu ermitteln, bereits durch Beiziehung der Strafermittlungsakten genügt sein. Eine darüber hinausgehende Ermittlungspflicht besteht nur dann, wenn neue, erfolgversprechende Ansatzpunkte aufgetaucht sind oder der Sachverhalt unter anderen rechtlichen Kriterien als im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren zu würdigen wäre. Die unterschiedlichen Verfahrensregeln in Straf- und Sozialgerichtsverfahren sind jedenfalls kein Grund, die Beweisaufnahme ganz oder teilweise zu wiederholen; denn die Beweislast eines Klägers im Sozialgerichtsverfahren entspricht der Beweislast des Staates im Strafverfahren (LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 29.04.2014 - L 6 VG 4545/13 -).

Mit zunehmendem zeitlichen Abstand gerade von den Kriegsereignissen oder einer früheren Impfung wird diese Beweisführung naturgemäß immer schwieriger. Gleichwohl muss an der Forderung nach dem Vollbeweis festgehalten werden. Das gilt auch für den Bereich des OEG. Gerade hier kommt es häufiger vor, dass von der Art der Verletzungen des Betroffenen zwar darauf geschlossen werden kann, er sei gewaltsam in seiner Gesundheit geschädigt worden, aber nicht ermitteln ist, ob der oder die Täter, sofern sie überhaupt festzustellen sind, rechtswidrig und vorsätzlich gehandelt haben.

Beispiel:
Eine Frau wird morgens am Fuße eines Autobahnbrückenpfeilers, etwa 15 m unterhalb der Fahrbahn, schwer verletzt aufgefunden. Sie kann sich an nichts mehr erinnern, Täter werden nicht ermittelt. Die Art der Verletzungen spricht weder eindeutig für noch gegen eine Gewalttat.

Hier befindet sich die Verletzte in echter Beweisnot.

Gleichwohl verbietet sich die Anwendung etwa eines Grundsatzes wie "Im Zweifel für den Geschädigten" ("in dubio pro reo"), denn einen solchen Grundsatz gibt es im sozialen Entschädigungsrecht - wie auch sonst - nicht. Die tatsächlichen Voraussetzungen des Anspruchs müssen bewiesen sein. Selbst wenn im o.a. Beispiel die Art der Verletzungen auf einen Überfall schließen ließe, könnte der Anspruch auf Entschädigung nach dem OEG nur schwerlich bejaht werden, wenn nicht festgestellt werden kann, dass der Täter auch die subjektiven Voraussetzungen des § 1 OEG erfüllt hat.

Dennoch ist es - gerade im Bereich des OEG, in dem es vielfach um die Feststellung innerer Zusammenhänge geht (vorsätzliche Gewalttat), - zulässig, von äußeren Umständen auf typische bestimmte (innere) Geschehensabläufe zu schließen (zum Rückschluss aus einem typischen äußeren Sachverhalt auf den subjektiven Tatbestand s. BSG, Urteil vom 24.04.1991 - 9a/9 RVg 1/89 -; s. aber auch: BSG, Urteil vom 28.03.1984 - 9a RVg 1/83 -).

Der Gesetzgeber hat eine Beweisnot berücksichtigt: Eine Hilfe bei der Beweisführung bietet § 15 des "Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung" (VwVfG-KOV) vom 02.05.1955, das insoweit auch nach dem Inkrafttreten des SGB X noch gilt. In dieser Vorschrift heißt es:

"Die Angaben des Antragstellers, die sich auf die mit der Schädigung im Zusammenhang stehenden Tatsachen beziehen, sind, wenn Unterlagen nicht vorhanden oder nicht zu beschaffen oder ohne Verschulden des Antragstellers oder seiner Hinterbliebenen verloren gegangen sind, der Entscheidung zugrunde zu legen, soweit sie nach den Umständen des Falles glaubhaft erscheinen. Die Verwaltungsbehörde kann in besonderen Fällen von dem Antragsteller die eidesstattliche Versicherung verlangen, dass er bei seinen Angaben nach bestem Wissen die reine Wahrheit gesagt und nichts verschwiegen habe."

Diese Vorschrift ist anwendbar, wenn alle anderen Aufklärungsmöglichkeiten erschöpft sind. Sie gilt im Übrigen auch und gerade im Rahmen des OEG, da sich auch und gerade hier in vielen Fällen das Gewaltopfer in Beweisnot befindet (vgl. BSG, Urteil vom 31.05.1989 - 9 RVg 3/89 -). Die Vorschrift ist nicht nur im Verwaltungsverfahren anwendbar, sondern auch im gerichtlichen Verfahren, weil es sich um materielles Beweisrecht handelt (BSG a.a.O.). Mit der Regelung des § 15 VwVfG-KOV wird auch nicht etwa der Grundsatz des Vollbeweises durchbrochen, sondern nur die Möglichkeit geschaffen, auch die Angaben des Antragstellers als hinreichendes Beweismittel anzuerkennen (vgl. dazu u.v.a. LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 26.05.2016 - L 10 VE 53/13 -), sofern sie glaubhaft und ohne Widersprüche sind - und gerade dies steht vielfach entgegen. Konsequent zu beachten ist, dass es, wenn zur Klärung der Glaubhaftmachung der Angaben des Antragstellers ein aussagepsychologisches Gutachten eingeholt wird, bei dem Maßstab der Glaubhaftmachung verbleibt, der geringer ist als der des Vollbeweises. Darauf ist der Sachverständige hinzuweisen; zudem sind die Beweisfragen entsprechend zu fassen (BSG, Urteile vom 17.04.2013 - B 9 V 1/12 R und B 9 V 3/12 R -).  Die Beurteilung, ob auf ein bestimmtes Geschehen bezogene Angaben zutreffen, d.h. einem tatsächlichen Erleben der untersuchten Person entsprechen, zählt indes an sich zu den ureigenen Aufgaben eines Tatrichters; sie gehört seit jeher zum Wesen richterlicher Rechtsfindung. Daher kommt die Einholung eines Glaubhaftigkeitsgutachtens nur ausnahmsweise in Betracht. Der Richter selbst hat bei der Beweiswürdigung Erfahrungsregeln zu beachten, die u.a. aus aussagepsychologischen Untersuchungen gewonnen wurden. Allerdings kann die Hinzuziehung eines aussagepsychologischen Sachverständigen insbesondere dann geboten sein, wenn die betreffenden Angaben das einzige das fragliche Geschehen belegende Beweismittel sind und Anhaltspunkte dafür bestehen, dass sie durch eine psychische Erkrankung der Auskunftsperson (Zeuge, Beteiligter) und deren Behandlung beeinflusst sein können (BSG Urteil vom 15.12.2016 - B 9 V 3/15 R -).

Die Beweiserleichterung des § 15 VwVfG-KOV kann nicht greifen, wenn nach eingehendem aussagepsychologischen Procedere Zweifel an der Aussagetüchtigkeit des Betroffenen sowohl im Zeitpunkt der mutmaßlichen Vorfälle als auch im Zeitpunkt der Aussageentstehung und -entwicklung bestehen (LSG NRW, Urteil vom 29.09.2010 - L 6 (7) VG 16/05 -).

Auch eine totale ereignisbezogene Amnesie schließt die Anwendung der Beweiserleichterung des 15 VwVfG-KOV grundsätzlich aus. Sie führt auch nicht zu der Einräumung einer Beweiserleichterung wegen eines unverschuldeten Beweisnotstandes (LSG NRW, Urteil vom 16.01.2003 - L 7 VG 44/00 -). Darüberhinaus ist zu berücksichtigen, dass generell im Hinblick auf Ereignisse bis zum 4. Lebensjahr keine und im Hinblick auf Ereignisse bis zum 6. Lebensjahr nur eine stark eingeschränkte Aussagetüchtigkeit ("kindliche Amnesie") angenommen werden kann (so LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 13.05.2019 - L 7 VE 11/18 -).

Die Beweiserleichterung des § 15 VwVfG-KOV ist auch anwendbar, wenn für den schädigenden Vorgang keine Zeugen vorhanden sind. Das gilt auch, wenn zwar Zeugen vorhanden sind, diese aber von ihrem gesetzlichen Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch machen oder wenn der Zeuge als Täter in Betracht kommt, aber die schädigende Handlung bestreitet (Hessisches LSG, Urteil vom 26.06.2014 - L 1 VE 30/10 -).

Schließlich kann in Sonderfällen ggf. auch eine Umkehr der Beweislast zu erwägen sein: Dem OEG liegt vor allem der Gedanke zugrunde, dass die Gesellschaft für die gesundheitlichen Schäden des Opfers einer Gewalttat einzutreten hat, weil der Staat es im Einzelfall nicht vermocht hat, den Bürger vor einem gewaltsamen Angriff zu bewahren. Die Entschädigung der Opfer von Straftaten resultiert aus der besonderen bzw. gesteigerten Verantwortung des Staates für die Unvollkommenheit staatlicher Verbrechensbekämpfung. Die staatliche Verpflichtung, Verbrechen im oben genannten Sinne zu verhindern, schließt die Verpflichtung des Staates ein, wenn schon die Verhinderung des Verbrechens misslingt, das Verbrechen wenigstens so weit wie möglich aufzuklären und dem Geschädigten damit bei der Erbringung des Nachweises eines vorsätzlichen, rechtswidrigen, tätlichen Angriffs zur Seite zu stehen. Geschieht das nicht, muss die Versorgungsverwaltung beweisen, dass der Betroffene nicht Opfer eines vorsätzlichen tätlichen Angriffs geworden ist (SG Düsseldorf, Urteil vom 13.06.2013 - S 35 VG 21/10 -).