Soziales
Entschädigungsrecht

VIII. Umfang der Versorgung

 

3. Beschädigtenrente

 

Gliederung

a) Grundrente
    aa) Grad der Schädigungsfolge
           (1) Nachschaden
           (2) Vorschaden
    bb) Besonderes berufliches Betroffensein
b) Schwerstbeschädigtenzulage
c) Ausgleichsrente
d) Berufsschadensausgleich
e) Ergänzende Leistungen zur Rente
    aa) Ehegattenzuschlag
    bb) Kinderzuschlag
    cc)  Alterszuschlag
    dd) Pflegezulage

 

a) Grundrente

 

Die Grundrente steht jedem Beschädigten zu, dessen Grad der Schädigungsfolgen (GdS) wenigstens 25 beträgt. Sie stellt ihrem Wesen nach einerseits eine Entschädigung für die Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit dar, andererseits dient sie dem Ersatz der schädigungsbedingten Mehraufwendungen. Wegen dieser besonderen Zielsetzung, die nicht wie sonst in der Sicherung des Lebensunterhalts allein besteht, ist die Grundrente grundsätzlich unantastbar. Deshalb wird sie bei der Bemessung anderer Leistungen, bei denen es auf die wirtschaftliche Lage des Berechtigten oder Verpflichteten ankommt, vielfach nicht als Einkommen angerechnet, so z. B. bei der Prüfung der Bedürftigkeit in § 25 d Abs. 1 BVG oder in § 82 Abs. 1 SGB XII. Sie ist gemäß § 54 Abs. 3 Nr. 3 SGB I unpfändbar (gleiches gilt für den WDB-"Ausgleich" gemäß § 85 Abs. 5 S. 1 SVG).

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aa) Der Grad der Schädigungsfolgen

Grundrente wird gewährt, wenn die anerkannten Schädigungsfolgen zu einem GdS von wenigstens 25 führen. Der geringste "rentenberechtigende Grad" der Schädigungsfolgen beträgt also 25, bei dessen Vorliegen dann die Rente nach einem GdS von 30 gezahlt wird, weil die in § 31 BVG genannten GdS-Werte (Zehner-Werte von 30 bis 100) jeweils einen geschätzten Mittelwert darstellen und ein bis zu fünf Grad geringerer GdS vom höheren Zehnergrad mit umfasst wird (§ 30 Abs. 1 Satz 2 2. HS. BVG). Die Beträge für die GdS-Werte, die als Grundrente gezahlt werden, sind im Einzelnen in § 31 Abs. 1 BVG aufgeführt.

Die Festsetzung des GdS, die oft im Mittelpunkt von Rechtsstreitigkeiten steht, erfolgt nach den in allen Lebensbereichen bestehenden allgemeinen Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen, die durch die als Schädigungsfolge anerkannten körperlichen, geistigen oder seelischen Gesundheitsstörungen bedingt sind (§ 30 Abs. 1 Satz 1 BVG); dabei sind auch seelische Begleiterscheinungen und Schmerzen zu berücksichtigen (s. Teil A 2. i Satz 1 VMG)

Die Erscheinungen dürfen nicht altersbedingt sein. Es muss sich bei diesen Beeinträchtigungen auch um nicht nur vorübergehende Erscheinungen handeln, d.h. der Zustand muss mehr als sechs Monate andauern (§ 30 Abs. 1 Satz 3 BVG, Teil A 2. f Satz 1 VMG). Daher ist es grundsätzlich ausgeschlossen, dass eine Grundrente etwa nur für vier Monate gewährt wird.

Schwankt der Zustand ist ein Durchschnitts-GdS zu bilden (Teil A 2. f Satz 3 ff VMG)

Aus der Regelung des § 30 Abs. 1 BVG ergibt sich, dass bei der Festsetzung des GdS erhebliche Unsicherheiten auftreten können. Um dem zu begegnen, sind in Nr. 5 der Verwaltungsvorschriften zu § 30 BVG für bestimmte Schädigungsfolgen, bei denen es sich durchweg um erhebliche Körperschäden handelt, exakte Mindest-Werte angegeben, z.B. für den Verlust eines Armes im Unterarm sowie für den Verlust eines Beines im Unterschenkel jeweils 50. Diese für bestimmte Schäden festgesetzten Sätze werden als Rechtsnormen angesehen (BSG, Urteil vom 26.11.1968 - 9 RV 262/66 -); sie sind nicht nur eine Hilfe bei der Bemessung anderer Gesundheitsstörungen, sondern auch die Richtschnur für die bereits genannten AHP bzw. die Nachfolgeregelungen der VMG.

Die Festsetzung des GdS erfolgt zeitlich in der Regel für die Zeit ab Antragstellung (und damit auch die entsprechende Rentengewährung). Eine Begrenzung für die Zukunft, etwa auf zwei Jahre, ist nicht zulässig, denn eine Zeitrente wie in der gesetzlichen Rentenversicherung gibt es im sozialen Entschädigungsrecht nicht.

Eine zu erwartende Besserung des Leidens kann erst dann berücksichtigt werden, wenn sie tatsächlich eingetreten ist, allerdings auch nicht vor Ablauf von zwei Jahren seit der letzten Feststellung (§ 62 Abs. 2 BVG). Sie ist dann als Änderung der Verhältnisse im Sinne des § 48 SGB X zu behandeln. Dasselbe gilt für die weitere Verschlimmerung eines Schädigungsleidens.

Hervorzuheben ist auch hier noch einmal, dass die GdS-Bewertung ebenso wie die des GdB völlig unabhängig von sonstigen Begriffen der versicherungsrechtlichen "Vollen Erwerbsminderung" (bis 31.12.2000: "Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit") zu erfolgen hat. Also: Wer voll erwerbsgemindert im Sinne des § 43 Abs. 2 SGB VI (gesetzliche Rentenversicherung) ist, muss nicht automatisch einen GdS von 100 v.H. erreichen. Andererseits kann eine Erwerbsunfähiger i.S. des BVG (§ 31 Abs. 1 und 3 BVG), z. B. ein Doppel-Oberschenkelamputierter, als Kanzleivorsteher arbeiten und damit noch nicht einmal voll erwerbsgemindert im Sinne der rentenrechtlichen Vorschriften sein (vgl. BSG, Beschluss v. 08.08.2001 - B 9 SB 5/01 B -).

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(1) Nachschaden

Ein Nachschaden ist eine Gesundheitsstörung, die zeitlich nach der Schädigung eingetreten ist und nicht in ursächlichem Zusammenhang mit der Schädigung steht, also schädigungsunabhängig ist. Dieser Nachschaden wirkt sich nicht auf die Höhe des GdS aus (vgl. Teil C 12 b VMG).

Beispiel:
Der infolge einer während des zweiten Weltkrieges erlittenen Granatsplitterverletzung Beinamputierte erkrankt - nach dem Krieg - an einem Lungenleiden, ohne dass dies auf Kriegsereignisse zurückzuführen wäre.

Bereits auf den ersten Blick leuchtet ein, dass ein solcher Nachschaden nicht den (schädigungsbedingten) GdS zu erhöhen vermag, weil dies dem Erfordernis des ursächlichen Zusammenhangs (vgl. VII. Ursächlicher Zusammenhang) widersprechen würde. Indes gibt es Fälle, in denen ein Nachschaden faktisch auch Auswirkungen auf die anerkannte Schädigungsfolge hat bzw. deren Auswirkungen verstärkt; dennoch führt dies nicht zu einer Erhöhung des GdS (vgl. auch Teil C 12 b VMG).

Beispiel:
Der infolge einer Schädigung i.S. des BVG auf einem Ohr Ertaubte (GdS 20) verliert schädigungsunabhängig auch noch die Hörfähigkeit auf dem anderen Ohr (entsprechender Gesamt-GdS wäre 80).

Auch in einem solchen Falle würde es dem Grundsatz der Kausalität (vgl. VII. Ursächlicher Zusammenhang) widersprechen, den GdS für die (schädigungsbedingte) Ertaubung des ersten Ohres i.H.v. 20 zu erhöhen, etwa weil sich dieser Verlust infolge des Nachschadens nun viel stärker auswirkt als vorher. Diese stärkere Auswirkung ist nicht auf die Schädigung zurückzuführen und kann deshalb nicht bei der GdS-Bemessung nach dem BVG berücksichtigt werden (BSG, Urteil vom 10.12.1975 - 9 RV 112/75 -).  Es ist also unerheblich, ob der Nachschaden die gesamte Funktionsfähigkeit im Zusammenhang mit den Schädigungsfolgen beeinflusst oder ob sich die Schädigungsfolgen wegen des Auftretens eines Nachschadens stärker bemerkbar machten (LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 21.03.2013 - L 6 VK 5547/11 -).

Zu beachten ist: Eine andere Rechtslage gilt jedoch bei der Bewertung einer später, in Zusammenhang mit Nichtschädigungsfolgen ausgelösten beruflichen Beeinträchtigung (s. dazu Teil C 1 e VMG) oder bei dem Eintreten einer Pflegebedürftigkeit (s. z. B. Teil C 13 b VMG); dort kommt es auf die wesentliche Mitbeteiligung der Schädigungsfolgen (vgl. VII. Ursächlicher Zusammenhang) an!

Schließlich ist der GdS auch dann nicht zu erhöhen, wenn die anerkannten Schädigungsfolgen wegen altersbedingter Gesundheitsstörungen nur noch schlecht ausgeglichen werden können (BSG, Urteil vom 06.09.1989 - 9 RV 26/88 -).

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(2) Vorschaden

Wenn die Schädigungsfolge indes auf eine schädigungsunabhängige Vorschädigung trifft, kann der ansonsten geringere (schädigungsbedingte) GdS erhöht werden, weil sich die Schädigung besonders nachteilig auswirkt (vgl. im Einzelnen dazu Teil C 12 a VMG).

Beispiel:
Ein Metallarbeiter hat bei einem Arbeitsunfall ein Auge verloren (MdE 25 v.H.). Nun verliert er durch einen Sprengstoffanschlag (Gewalttat) das zweite Auge.

Für den Verlust eines Auges ist im Sozialen Entschädigungsrecht ein GdS von 30 anzusetzen (vgl. Nr. 5 der Verwaltungsvorschriften zu § 30 BVG - im Recht der Unfallversicherung nur eine MdE von 25 v.H.), für den Verlust beider Augen (Blindheit) ein GdS von 100. Die nun eingetretene Blindheit ist ungleich schwerer als der unfallbedingte (Vor-)Verlust des einen Auges zu bewerten, daher dürfte jetzt ein GdS um 80 - 90 (also nicht etwa nur 100 abzgl. der unfallbedingten 25 = 75) für die Versorgung maßgebend sein (vgl. dazu Teil C 12 a bb Satz 2 VMG).  Demgegenüber wird der vorhergehende Unfallschaden nicht neu eingeschätzt; der Unfallschaden bleibt also bei einer MdE 25 v.H. Wird also auf den unfallsversicherungsrechtlichen Aspekt abgestellt, so ist hier der Versorgungsschaden ein unfallunabhängiger Nachschaden.

weiteres Beispiel:
Als Folge eines "privaten" Verkehrsunfalls hat B eine Versteifung des rechten Ellenbogengelenks in ungünstiger Stellung erlitten; dieser Vorschaden ist mit einem GdB von 40 zu bewerten (vgl. dazu Teil B 18.13 VMG). Bei einer an ihm nachfolgend verübten Gewalttat i.S.d.
OEG verliert B die linke Hand. Der Verlust der linken Hand bedingt an sich einen GdS von (vgl. Nr. 5 der Verwaltungsvorschriften zu § 30 BVG).

Wegen der verstärkten Gesamtauswirkungen auf das Funktionssystem "Arme" ist ein GdS von 60 angemessen (vgl. dazu Teil C 12 a bb Satz 2 VMG).

Vorschäden können aber auch zur Erniedrigung eines an sich höheren GdS führen (Teil C 12 a bb Satz 1 VMG):

Beispiel:
B hat bei einem Arbeitsunfall das rechte Bein im Bereich des Unterschenkels verloren. Dieser Vorschaden bedingt eine MdE 50 v.H. Bei einer an ihm nachfolgend verübten Gewalttat i.S.d.
OEG verliert B den Rest des rechten Beines. Der Verlust eines Beines im Oberschenkel führt an sich zu einem GdS von 70 (vgl. Nr. 5 der Verwaltungsvorschriften zu § 30 BVG).

Hier ist der Schaden aufgrund der Gewalttat geringer zu bewerten. Wegen des Vorschadens bedingt der (weitere) Beinverlust nur einen GdS von 40.

Weitere Beispiele enthielt die Nr. 47 AHP, die von ihrem Inhalt her auch weiterhin herangezogen werden können.

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