Anhaltspunkte 2008


Nr. 60 AHP 2008 - Hirnverletzungen

 

(1) Die Hirnverletzung kann offen sein oder in Prellungen und Quetschungen des Gehirns bei intakten Schädelknochen (gedeckte Hirnverletzung) bestehen. 

(2) Im Gegensatz zur Gehirnerschütterung beruht das klinische Bild der Contusio cerebri auf umschriebenen, anatomisch sichtbaren Schädigungen der Hirnsubstanz (z.B. in Form der Rindenprellungsherde), die meist bleibende Funktionsstörungen hinterlassen. Im Initialstadium kann es zu stärkeren Durchblutungsstörungen und Hirnschwellungszuständen (traumatisches Ödem) mit nachfolgender umschriebener oder diffuser Hirnatrophie kommen.

Druckschädigungen des Gehirns können bei epi- und subduralen Hämatomen - und auch nach Subarachnoidalblutungen (posttraumatischer Hydrozephalus) - auftreten. 

(3) Nach Abklingen der akuten Folgen einer gedeckten Hirnschädigung treten die vasomotorischen Störungen im allgemeinen in den Hintergrund.

(4) Traumatische Zwischenhirnschäden kommen nur selten zur Begutachtung, da sie oft nicht überlebt oder in kurzer Zeit ausgeglichen werden. Die Annahme eines Zwischenhirnschadens kommt in Frage, wenn in enger zeitlicher Verbindung mit einem Hirntrauma nebeneinander

  1. charakteristische neurologische Nachbarschaftssymptome (vor allem Nystagmus),
  2. vegetative Störungen besonders im Bereich der Vasomotoren,
  3. Wasserhaushaltsstörungen, Stoffwechselstörungen,
  4. ein organisches Psychosyndrom

aufgetreten sind und in ihrer Gesamtheit bleibend nachgewiesen werden können.

Ein Zusammenhang zwischen Hirnverletzung und innerem Leiden kann als wahrscheinlich angenommen werden, wenn

  1. ein Zwischenhirnschaden durch die obengenannte Symptomatik nachgewiesen ist,
  2. eine unmittelbare zeitliche Verbindung zwischen dienzephaler Schädigung und bestimmten inneren Organstörungen besteht oder einwandfreie Brückensymptome vorhanden sind und
  3. durch Familienuntersuchung ein maßgeblicher Einfluss von Erbanlagen unwahrscheinlich ist.

(5) Der Hirnverletzte ist leidensunabhängig dem physiologischen Alterungsprozess unterworfen. Bei der Begutachtung von älteren Hirnverletzten muss somit grundsätzlich mit einem unabhängigen Nebeneinander von Hirnverletzungsfolgen einerseits und Gefäß- oder Parenchymalterung andererseits gerechnet werden. Treten bei älteren Hirnverletzten Verschlechterungen von Hirnfunktionsstörungen auf, ist stets unter besonderer Würdigung der Art der Symptome sorgfältig zu prüfen, welche Bedeutung die Hirnverletzung und ihre Folgen einerseits und der physiologische Alterungsprozess oder pathologische Prozesse (z.B. Demenz vom Alzheimer-Typ, Multiinfarktsyndrom) andererseits für die Verschlechterung haben (siehe Nummer 47, Absätze 2 und 3).

Anmerkung

Eine vorzeitige Entstehung oder Akzentuierung einer zerebralen Gefäßsklerose bei Hirnverletzten ist bisher nicht erwiesen. Andererseits konnten bei hirnpathologischen Untersuchungen in der Umgebung alter Hirnnarben nach offenen Hirnverletzungen Gefäßveränderungen in Form von Fibrosen als Folgen der Wundheilungen festgestellt werden; in solchen Bezirken kann es im Zuge der Alterung zu Mangeldurchblutungen kommen, die dann aber wesentlich durch die Verletzung bedingt sind. Klinisch kann daraus eine Verschlechterung der Hirnverletzungsfolgen resultieren (z.B. Wiederauftreten oder Verdeutlichung früher vorhandener Hirnfunktionsstörungen oder Auftreten von Nachbarschaftssymptomen).

Ferner ist zu beachten, dass bei den traumatischen Hirnschäden im Alter infolge einer allgemeinen Verminderung der Kompensationsfähigkeit des Gehirns Hirnverletzungssymptome, die sich in den ersten Jahren nach dem Trauma gebessert hatten, wieder stärker in Erscheinung treten können.

Für die Beurteilung einer Verschlechterung zerebraler Störungen bei Hirnverletzten im Alter ergibt sich daraus: Wenn es zu einer Akzentuierung schon vorher vorhandener Störungen, oder zu neuen Störungen, die als Nachbarschaftssymptome angesehen werden können, kommt, dann kann dieses Neue oder dieses Mehr an Störungen wesentlich durch die Hirnverletzung mitbestimmt sein, wobei nach offenen Hirnverletzungen eher zu dieser Beurteilung zu kommen ist als nach gedeckten.

Eine Zunahme zerebraler Störungen, insbesondere eine Progredienz des Psychosyndroms, kann außerdem wesentlich durch die Hirnverletzung bedingt oder mitbedingt sein, wenn diese zu hirnorganischen Anfällen geführt hat, vor allem, wenn die Anfälle im Alter häufiger geworden sind.

Gegen eine wesentliche Mitwirkung der Hirnverletzungsfolgen bei Verschlechterungen im Alter sprechen neuartige Ausfallserscheinungen, die weder als Nachbarschaftssymptome gedeutet noch sonst mit der Lokalisation und Ausdehnung der Hirnverletzung in Beziehung gebracht werden können. Im übrigen ist zu beachten, in welchem Zeitraum sich neue Störungen entwickelt und welchen Umfang sie haben. Wenn im Zuge der Alterung neue Störungen sehr langsam in Erscheinung getreten sind, kann dies die Annahme einer wesentlichen Mitwirkung der Hirnverletzung - zumindest für die ersten Jahre der Progredienz - mehr stützen, als wenn die Verschlechterung des Zustandes sehr schnell eingetreten ist und sogleich einen erheblichen Umfang angenommen hat. Es ist daneben zu berücksichtigen, ob sich Hinweise für erhebliche Hirndurchblutungsstörungen infolge einer Arteriosklerose oder auch im Rahmen einer Herzinsuffizienz (insbesondere Rechtsherzinsuffizienz) ergeben oder ob ein Bluthochdruck vorliegt, der einerseits als besonderer Risikofaktor für zerebrale Ischämien bekannt ist und andererseits auch direkt auf die Hirndurchblutung einwirkt. Von Bedeutung ist auch, in welchem Alter neue Störungen in Erscheinung getreten sind; je höher das Alter hierbei war, desto eher muss mit erheblichen Alterungsveränderungen des Gehirns gerechnet werden.

(6) Bei der Apoplexie ist zu prüfen, ob es sich um einen Hirninfarkt oder um eine Blutung bei einem unabhängig von der Hirnverletzung veränderten Hirngefäßsystem oder - was selten vorkommt - um eine Folge der Hirnverletzung handelt. Bei Todesfällen ist eine Klärung durch Obduktion anzustreben.

(7) Parkinson-Syndrome können nur in Ausnahmefällen als Hirntraumafolge beurteilt werden. Wegen ihrer geschützten Lage werden die Stammganglien des Gehirns nur sehr selten von Hirnverletzungen mitbetroffen. Demzufolge kommt die Annahme eines traumatischen Parkinsonismus nur dann in Betracht, wenn eine schwere Hirnverletzung oder wiederholte leichtere Traumen mit Hirnstammbeteiligung nachgewiesen sind und nach einmaligem Trauma die ersten extrapyramidalen Störungen in enger zeitlicher Verbindung mit dem Trauma aufgetreten sind und wenn außerdem andere Ursachen des Parkinson-Syndroms unwahrscheinlich sind.

(8) Hirnabszesse können sich auch noch viele Jahre nach der Verletzung ausbilden.

(9) Nur ausnahmsweise wird man einen ursächlichen Zusammenhang zwischen Hirntrauma und Tumor annehmen können (siehe Nummer 142).

(10) Hirnschäden können auch indirekt durch traumatische Schädigungen der hirnversorgenden Gefäße (z.B. Aneurysma dissecans) entstehen.